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AutorenbildDeniz Kayadelen

Diese Schwimmerin fürchtet sich vor kaltem Wasser – und überquert trotzdem den Ärmelkanal

Deniz Kayadelens grosser Lebenstraum ist das Durchschwimmen des Ärmelkanals. Dafür muss sie sich anpassen, körperlich und mental.


Extrakt aus: NZZ



Am Horizont sieht Deniz Kayadelen die Kreidefelsen von Cap Blanc-Nez. Kayadelen, 35 Jahre alt, befindet sich seit zehn Stunden im 16 Grad kalten Wasser. Sie will den Ärmelkanal durchschwimmen; das ist der grosse Traum. Oder wie Kayadelen sagt: «Der Mount Everest für Schwimmerinnen.» Sie glaubt, sie habe es bald geschafft.



Doch die Klippen an Frankreichs Westküste wollen nicht näherkommen. Das liegt einerseits daran, dass Kayadelen sterbensmüde ist. Die Hüften sind blockiert, sie schwimmt nur noch mit den Armen. Hände und Füsse spürt sie kaum mehr. Kanalschwimmerinnen tragen nur eine Badekappe und einen Badeanzug. So steht es in den Regularien der britischen Channel Swimming Association.


Ausserdem setzt der Gezeitenstrom ein; Kayadelen schwimmt gegen die Ebbe. Ihr droht die Zeit auszugehen, die Helfer auf dem Begleitboot treiben sie an. Sie muss schneller werden – sonst wird die Strömung irgendwann zu stark, um dagegen anzukommen.


«Ich will der Angst zeigen, dass ich stärker bin»


Kayadelen denkt ans Aufgeben. In den Tagen vor dem Start hat sie sich erkältet, sie lag mit Fieber im Bett. Im Ärmelkanal quälen sie immer noch Halsschmerzen; Kayadelen kann kaum sprechen. Die Nase ist verstopft nach Stunden im Salzwasser. «Das Atmen ist mir schwergefallen, ich bekam Angst», sagt sie.


Die Angst und der Umgang damit – das ist Kayadelens Lebensinhalt. Die erste Erfahrung mit diesem Gefühl machte sie vor 15 Jahren. An einem Wettkampf im Freiwasserschwimmen wurde sie 2008 bewusstlos; sie erlitt eine Hypothermie, die Körpertemperatur sank unter 35 Grad. Danach hatte sie jedes Mal Panik, wenn sie in kaltes Wasser stieg.


Kayadelen sagt, es komme darauf an, wie sie mit der Angst umgehe. Vermeidet sie Situationen, die Angst machen? Sie hat sich anders entschieden. «Ich will der Angst zeigen, dass ich stärker bin.»




Sie nimmt sieben Kilogramm zu – das schützt vor der Kälte


Kayadelen hat Wirtschaftspsychologie studiert und wohnt in Männedorf am Zürichsee. Die deutsch-türkische Doppelbürgerin arbeitet in Zürich für ein Beratungsunternehmen, unterstützt Firmen bei Personalfragen.


Sie bestreitet seit mehr als 15 Jahren Open-Water-Wettkämpfe über 10 Kilometer und mehr. Ausserdem ist sie mehrfache Weltmeisterin im Eisschwimmen. In dieser Sparte bestreitet sie Rennen in vier Grad kaltem Wasser, schwimmt aber nur wenige Minuten. Für die Strecke von England nach Frankreich rechnete sie mit 12 bis 15 Stunden. Kayadelen musste sich für das Kanalschwimmen anpassen, körperlich und mental.

In den vergangenen sechs Monaten nahm sie sieben Kilogramm zu, ass alles, worauf sie Lust hatte, vor allem Lachs, wegen des hohen Fettgehalts. Kayadelen legte sich eine isolierende Fettschicht zu; ein «Kanal-Bäuchlein», wie sie es nennt.


Mitten in der Nacht wird gestartet – wegen der Gezeiten

Schwieriger als die Ausdauerleistung sei gewesen, den Kopf an stundenlanges Schwimmen zu gewöhnen. Kayadelen sagt: «Ob man es über den Kanal schafft, hängt zu 70 Prozent von der Psyche ab.» Einmal schwamm sie während zehn Stunden im Zürichsee, lernte das Gefühl kennen, allein mit sich und den Gedanken zu sein. Gegen die Kälte härtete sie sich mit Bädern in Bergseen ab. Und sie reiste ein paarmal nach Dover, um im Meer zu schwimmen. Im englischen Küstenort starten die meisten Kanalschwimmer. Zum Cap Blanc-Nez sind es 34 Kilometer, es ist die schmalste Stelle des Ärmelkanals.


Bei allen Trainings blieb eine Sache unverändert: Immer wenn Kayadelen an die Kanalüberquerung dachte, schlich die Angst vor dem kalten Wasser ins Gehirn. In den Wochen vor dem Überquerungsversuch arbeitete sie deshalb mit einem Hypnosetherapeuten. «Er hat mir Sicherheit vermittelt, ich legte die Angst vor der Kälte ab», sagt Kayadelen.


Beim Start ist es dunkel über dem Ärmelkanal. Mitternacht. Kayadelen nimmt die längste Schwimmstrecke ihres Lebens wegen der Gezeiten um diese Zeit in Angriff. In den letzten Tagen hat es gestürmt.


Die Hälfte der Begleitcrew ist seekrank

Das Meer ist immer noch unruhig, die Hälfte der Begleitcrew ist seekrank, hängt über der Reling. Kayadelen hat sich zum Schutz vor der Kälte mit Fett eingerieben. Aus Sicherheitsgründen trägt sie ein Blinklicht. Immer wieder schaut sie zu ihrem Trainer auf dem Boot. Sie habe ihm das Leben anvertraut, sagt Kayadelen. Im Notfall hätte der Coach entschieden, den Versuch abzubrechen. «Von selber wäre ich nie aus dem Wasser gestiegen. Dafür bin ich zu stur», sagt Kayadelen.


Die ersten Stunden schwimmt sie in der Dunkelheit, es ist eisig kalt. Schon nach drei Stunden spürt sie die Füsse und Hände nicht mehr. «Da habe ich mich gefragt, ob ich es überhaupt schaffen kann», sagt sie.

Sie teilt sich die Schwimmstrecke mental ein. Denkt von Verpflegung zu Verpflegung. Aus dem Begleitboot bekommt sie Bananen, Energiegels und ein warmes Kohlenhydratgetränk. Die erste Krise überwindet Kayadelen, dann geht die Sonne auf. Das verleiht Energie. «Von da an ging es bergauf», sagt sie.


Das Gehirn im Ruhemodus

Irgendwann schaltet das Gehirn in den Ruhemodus. Kayadelen denkt nur noch an eines: Armzug. Armzug. Armzug. Luft holen – und so weiter. Trotzdem kommt die französische Küste kaum näher.


Ein Begleiter springt zu Kayadelen ins Wasser, begleitet sie eine Stunde lang, das ist gemäss den Regeln der Channel Swimming Association erlaubt. Doch zur einsetzenden Ebbe kommt jetzt auch noch seitliche Strömung hinzu, Kayadelen wird abgetrieben. Das verlängert die Schwimmstrecke, am Schluss wird sie 57 statt 34 Kilometer geschwommen sein.


Kayadelen ist seit 15 Stunden und 8 Minuten im Wasser, als sie es endlich geschafft hat. Vor ihr ragen die Kreideklippen in die Höhe. Sie klettert auf das Begleitboot, umarmt den Trainer. Am Strand angekommen, beginnt sie zu tanzen. «Es war verrückt, dass ich dazu noch die Kraft hatte.»


Zwei Wochen später wird sie sagen, körperlich habe sie sich gut von der Überquerung des Kanals erholt. «Mein Kopf ist aber immer noch müde. Ich muss zuerst alles verarbeiten.» Kayadelen sagt, sie habe die Überquerung trotz allen Strapazen genossen. «Das Vertrauen in mich, dass ich es schaffen kann: Das war ein überwältigendes Gefühl», sagt sie.


Vielleicht wird sie über die mentale Komponente der Kanalüberquerung ein Buch schreiben. Einen Titel hat sie schon im Kopf: «Die Angst ist dein bester Freund».






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